Die Liebe in Zeiten von Tinder

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tinder

Seitdem die Dating-App „Tinder“ 2012 in Kalifornien konzipiert wurde, erlebt sie in der ganzen Welt – vor allem in westeuropäischen und amerikanischen Großstädten – einen Siegeszug. Die App unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von bisher dagewesenen Datingplattformen und -apps. Es stellt sich die Frage, ob der Erfolg der App neue Tendenzen in der Art und Weise aufzeigt, wie junge Menschen sich kennenlernen und nach Liebe und romantischen Begegnungen suchen.

In der Vormoderne war die Liebe und der Heiratsmarkt noch geprägt von standardisierten Regeln des Kennenlernens, von Hierarchien und ungeschriebenen Gesetzen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts baute romantische Bindung auf sozialer Geltung auf und gehorchte den Regeln sozialer Hierarchien. Sexualität existierte nur in Verbindung mit Partnerschaft.

All das änderte sich mit dem aufkeimenden Kapitalismus und der Öffnung der Heiratsmärkte. Liebe wurde zunehmend zum Selbstzweck, Ehe zu einer emotionalen Bindung, Gefühle durften offenbart werden. Mit der sexuellen Revolution wurden Gefühle und Sexualität entkoppelt, Sexualität wurde zum Teil der eigenen Identität und konnte als Statusmerkmal fungieren, der Begriff der „Sexyness“ wurde allgegenwärtig. Durch die Werbung und die Massenmedien wurde Attraktivität zum Statussymbol und romantische Beziehungen zum Fokus jeder Öffentlichkeit. Durch Auflösung gesellschaftlicher Tabus und das Internet kam es zu einer endlosen Ausweitung des Angebots und einer Entgrenzung der romantischen Möglichkeiten.

Dies ist der Nährboden, auf dem das Konzept des „Datens“ entstanden ist. „Dating“ beruht auf einer ökonomisierten Art der Partnerwahl – in möglichst kurzer Zeit möglichst viel über die Ausstattung des Gegenübers mit verschiedenen Kapitalformen sowie über den Charakter und Werthaltungen herauszufinden. Es geht um Effizienz und Zeitmanagement. Dabei versucht man, eine möglichst perfekte Ergänzung zur eigenen Person zu finden – eine durch und durch moderne Denkweise.

Online-Dating ist der bedeutendste Trend in der modernen Partnersuche und stellt eine logische und zeitgemäße Übersetzung der veränderten, romantischen Marktbedingungen auf die Partnersuche dar. Es ist gekennzeichnet durch eine textuelle Art der Kommunikation (in Chats oder Mails) und damit einer Entkörperlichung romantischer Begegnungen, eine unbegrenzte Anzahl von potentiellen Partnern sowie Konkurrenten, eine neue Oberflächlichkeit beim Bewerten des Gegenübers durch Profilfotos und Selbstbeschreibungen sowie ein hohes, erforderliches Maß an Selbstreflektion beim Erstellen des eigenen Profils. Die erfolgreichste Online-Dating-Plattformen setzen dabei auf ausgeklügelte Psychotests und versprechen damit eine Effizienzsteigerung auf der Suche nach dem „perfekten Partner“.

„Tinder“ steht in großem Kontrast zu diesen herkömmlichen Datingplattformen. Statt dem Nutzer eine Begegnung mit dem „perfekten“ Partner zu versprechen, setzt Tinder auf Quantität statt auf Qualität. Das Konzept setzt auf Einfachheit: Mithilfe des Facebook-Accounts werden nur sehr wenige Informationen (Alter, Profilbilder, Interessen, Freunde) in die App importiert – damit ist die Registrierung abgeschlossen. Es gibt keine Fragebögen und Psychotests. Man wird mit GPS geortet und bekommt dann Menschen in der Nähe angezeigt. Die App funktioniert nach einem einfachen, binären „Hot or Not“-Prinzip: man sieht vom Gegenüber nur Fotos, das Alter, eventuelle gemeinsame Interessen, eventuelle gemeinsame Freunde sowie die geographische Entfernung. Gibt man der Person ein „Like“, entsteht die Möglichkeit auf ein „Match“. Nur, wenn die andere Person einen selbst auch „liked“, entsteht die Möglichkeit, zu chatten. So haben nur Personen, die man selbst attraktiv findet, die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. „Tinder“ vereint in seiner extrem einfachen Konzeption einige Innovationen, die andere Datingplattformen und -apps nicht bieten und die einige Veränderungen im Verhältnis der jungen Nutzergeneration zu Liebe und romantischen Begegnungen offenlegt.

Die Einfachheit der App macht sie auch für Menschen interessant, die nicht bereit sind, viel Energie in die Partnersuche zu investieren. Die Tatsache, dass einem endlos neue Personen angezeigt werden, birgt einen gewissen Suchtfaktor und verleiht der App einen Fließbandcharakter. Die App setzt Eigeninitiative voraus – nur mithilfe von Zeitinvestition wird ein „Match“ ermöglicht. Dass ein Chat nur bei gegenseitigem Interesse entstehen kann, verringert das Risiko auf unangenehme Begegnungen (vor allem für Frauen). Die App birgt kaum Potential für Enttäuschungen – wenn kein „Match“ entsteht, ist immer die Möglichkeit offen, dass man der anderen Person einfach noch nicht vorgeschlagen wurde. Die App zeigt nur Erfolge an. „Tender“ ähnelt in seiner Konzeption eher einem Spiel als einer Datingplattform, es unterhält den Nutzer und zieht so auch Menschen an, die zuvor noch nie Online-Dating betrieben haben. Dadurch, dass die App an das Facebookprofil gebunden ist, entsteht eine Authentizität, die sonst nicht möglich wäre. Die Nutzer sind so gezwungen, sich in „Tinder“ genauso darzustellen, wie sie sich in ihrem Freundeskreis geben.

Diese Vielzahl völlig neuer Aspekte, die „Tinder“ vereint, lassen in Verbindung mit dem enormen Erfolg der App die Frage aufkommen, ob sich hiervon Tendenzen zur weiteren Transformation der Bedingungen romantischer Begegnungen in der Moderne ableiten lassen. Einerseits zeigt der Erfolg der App ein offensichtliches Bedürfnis der jungen Nutzergeneration nach einer Rückkehr zu intuitiveren Formen des Begegnens, weg von Psychotests und Fragebögen. Auch dass die App so wenig Selbstdesign und Selbstdarstellung erlaubt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die „Digital Natives“ zwischen 20 und 30 gelernt haben, wie wenig eine ausgefeilte Selbstdarstellung einer Person mit ihrem wahren Charakter zu tun hat – und deswegen die Möglichkeit dazu lieber auf ein Minimum reduziert sehen. „Tinder“ legitimiert in seiner Konzeption eine sehr starke Oberflächlichkeit: mit dem Profilbild steht und fällt die Entscheidung für oder gegen ein „Match“. Diese Oberflächlichkeit wird von der App ausdrücklich erwartet, der Nutzer nimmt dies meist dankend an. Daran lässt sich ablesen, dass in der Nutzergeneration der App die Öffnung des romantischen Marktes verinnerlicht worden ist, das Abarbeiten potentieller Partner wie auf einem Fließband scheint bei den Wenigsten noch Irritation auszulösen. „Tinder“ bietet auch wichtige Hinweise auf das Verhältnis seiner Nutzer zu Sexualität. Man kann die App definitiv als ein Kind der neu entstandenen Abschleppmentalität sehen. Sexuelle Aktivität ist zum Statussymbol geworden (vor allem für Männer, aber immer mehr auch für Frauen). Hier sieht man die Trennung von Sexualität und Gefühlen sehr deutlich illustriert.

Daraus lassen sich zwei zentrale Tendenzen in Bezug auf das weitere Voranschreiten der Transformation der modernen Liebe ableiten: Einerseits bejaht der Erfolg von „Tinder“ die entgrenzten Möglichkeiten und das Überangebot des Internets, verneint aber gleichzeitig das hohe Maß an Planungswillen und die Suche nach dem „perfekten Partner“. „Tinder“ ist in seiner Konzeption auf Authentizität ausgerichtet und erhebt keinen Anspruch darauf, das Finden eines perfekten Partners zu ermöglichen – sondern setzt viel eher auf eine Vielzahl an Begegnungen frei nach dem Motto „alles muss, nichts kann“. Dies geht einher mit einem hohen Maß an Oberflächlichkeit und einer starken Wertschätzung des relativ neu entstandenen „sexuellen Kapitals“. Dies spricht sehr stark für ein Fortschreiten der Sexualisierung von Identität und der Trennung von Emotionen und Sex in der jungen Nutzergeneration von „Tinder“.

Der gleichbleibende Erfolg der App – in Berlin ist sie nun seit über einem Jahr sehr präsent – spricht dafür, dass es sich bei den zu beobachtenden Phänomenen nicht um eine temporäre Phase handelt, sondern echte, gesellschaftliche Veränderungen sichtbar werden.

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