MASSE // INDIVIDUUM:  Arbeitskultur

Der austro-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann entwickelte, ausgehend von seiner Untersuchung des Freiheitsbegriffs, die Idee von der sogenannten „Neuen Arbeit“. Die neue Arbeit, so Bergmann, böte Freiräume für Kreativität und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Die Bezeichnung als „Neue Arbeit“ legt nahe, dass diese Ideale in der Vergangenheit zu kurz gekommen sind. Und tatsächlich scheint es, als würde seit der Industriellen Revolution vor allem das fabrikhafte Produzieren von Massen für noch größere Massen immer weiter optimiert, ungeachtet der Frage, ob sich das Individuum als Arbeitnehmer entfalten kann oder nicht. Auch in anderen Bereichen, beispielsweise dem Dienstleistungssektor, scheint Produktivität und nicht Individualität im Vordergrund zu stehen – teilweise bis heute.

Einen möglichen Ausweg bietet die Selbstständigkeit, die dauerhaft jedoch meist nur schwer zu realisieren ist. Zwar ist man sein eigener Chef und kann sich auf den ersten Blick so individuell entfalten, wie man möchte, aber schnell wird man von Sorgen wie Krankenversicherungen, anfänglichen Finanzierungsproblemen und hohen Krediten geplagt, Sorgen, die einen nicht zu plagen scheinen, wenn man sich und seine individuelle Entfaltung einem klassischen Unternehmen unterordnet. Wir möchten das Problem folgendermaßen zuspitzen: Entweder, man verzichtet auf seine individuelle Entfaltung zugunsten der Sicherheit und ordnet sich einem klassischen Unternehmen zu oder man verzichtet auf seine Sicherheit zugunsten der individuellen Entfaltung und wählt die Selbstständigkeit – ein Dilemma.

Ein sich seit einigen Jahren abzeichnender Trend im Bereich neue Arbeitsformen ist das  Coworking. Es will eine Synthese der bisherigen Optionen sein. Hier kommen Freiberufler, Kreative und Startups zusammen, um gemeinsam und dennoch unabhängig voneinander auf größerem Raum zu arbeiten, wodurch sich gegenseitige Vorteile, beispielsweise im Sinne von Vernetzung bieten. Die nötige Location hierfür bieten Coworking Spaces, die Arbeitsplätze und Infrastruktur zur Verfügung stellen, sowie mit Hilfe von Workshops und anderen Veranstaltungen das Gemeinschaftsgefühl stärken. Dies geschieht zwar entgeltlich auf Tages-, Wochen- oder Monatsbasis, soll allerdings wesentlich günstiger, als das herkömmliche Anmieten von Büroflächen sein, so die Anhänger des Coworking.

Der in Deutschland bekannteste und erfolgreichste Coworking Space ist das Betahaus Berlin in Kreuzberg. Es bietet auf 2500 Quadratmetern rund 300 Arbeitsplätze und wächst stetig. Wir sind mit der U-Bahn zum Moritzplatz gefahren, haben uns das ganze angeschaut und mit den Leuten dort gesprochen. Unsere Leitfrage: Kann das Betahaus wirklich eine fruchtbare Synthese aus klassischem Unternehmen und Selbstständigkeit sein?

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INTERVIEW mit Katy (Download PDF)

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Als Mitarbeiterin des Betahauses spiegelte Katy für uns vor allem dessen Selbstverständnis wieder.
Bewenden lassen wollten wir es dabei nicht und wandten uns an ein Mitglied:

Interview mit Yatan: (Download Interview)

Yatan

 

Das Bethanienhaus im Bild:


Unser Fazit:

Das Betahaus scheint zu funktionieren. Coworking bricht mit starren Konventionen und fördert die Individualität. Es ist möglich, als der zur Arbeit zu kommen, der man ist und an dem zu arbeiten, was einen gerade interessiert. Natürlich. Immerhin ist hier jeder sein eigener Chef. Strenge Verhaltensnormen gibt es nicht.

Wie arbeitet es sich im Betahaus? Projektorientiert. Man hat eine Idee, mietet sich so lange in den Coworking Space ein, bis diese verwirklicht ist und verdient damit sein Geld. Soweit, so gut. Allerdings scheitern viele Ideen direkt am Anfang. Wer so leben und arbeiten möchte, muss flexibel und risikobereit sein. Eine Struktur muss jeder selbst finden, sie wird nicht vorgegeben. Das Betahaus bietet eine Gemeinschaft. Der Ton ist freundschaftlich und die Mitglieder werden vernetzt. Was es nicht bieten kann, ist ein geregeltes Einkommen oder einen festen Arbeitsplatz. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil hier immer noch jeder sein eigener Chef ist.

Aber ist all das nicht zeitgemäß? Und ist es nicht eine willkommene Herausforderung? Kein geregeltes Einkommen, Flexibilität, Selbständigkeit – der Geist unserer Zeit? Die Antwort ist so individuell wie jeder einzelne Mensch. Mancher braucht Freiheit, mancher braucht Beständigkeit. Wer Freiheit sucht, findet sie im Betahaus, wer Beständigkeit sucht, wird sie dort vermissen.

Das Betahaus schließt einem eine Reihe von Türen auf, es schiebt einen aber nicht hindurch. Es bietet einem an, sich zu vernetzen, es bietet einem an, Kurse zu besuchen, es bietet einem an, eine Struktur in der Fülle der Möglichkeiten zu finden, aber es zwingt zu nichts – abgesehen vielleicht von der Bezahlung der monatlichen Miete. Wer das Betahaus effizient nutzen will, sollte zweierlei sein: selbstständig und offen.

Das Coworking bietet keine wirkliche Synthese aus klassischer Unternehmensstruktur  und Selbständigkeit. Dafür liegt der Fokus zu sehr auf letzterem. Die Gemeinschaft, die es einem bietet, scheint es einem aber durchaus zu erleichtern, mit den negativen Seiten der Selbständigkeit umzugehen. Außerdem inspiriert es die Konkurrenz. Moderne Unternehmen beginnen, Vorteile des Coworking, wie das projektorientierte Arbeiten, zu übernehmen, sodass sich das, was wir unter Arbeitskultur verstehen, wandelt, vernetzt, und gegenseitig beflügelt – fast so sehr, wie das Betahaus.

 


und zu guter Letzt noch ein „Special“…

3D-Drucker „Makerboard“

„Nur Gadgets wie 3D-Drucker sind natürlich auch Bestandteil der Betahaus-Einrichtung.“