Massig viel Individualität.

Eine wissenschaftliche Herangehensweise verlangt, dass ich nun so viele Unterpunkte verfasse, wie die Überschrift Wörter enthält. Denn bevor wir ein Gesamtes behandeln können, müssen die Einzelteile auseinandergenommen werden.

Es scheint, als hätte ich Glück – denn diese Vorgehensweise hat direkt den Kopf der Thematik getroffen. Der Nagel ist sozusagen schon drin und eigentlich wäre es viel wichtiger, ihn wieder zu befreien. Denn so wie die Gliederung aus einzelnen Teilen das Große und das Ganze entschlüpfen lässt verhält es sich mit der breiigen Masse und den äußerst individuellen Teilchen ebendieser.

Berlin, Berlin – wie schön du bist. Einzigartig, bunt, vielseitig! Oder etwa nicht?

 

 

 

Das ist hier die große Frage. Sorgt die Masse dafür, dass die Stadt und ihre Bewohner den Raum für Individualität verlieren?
Der normale Lauf der Dinge geht vom Individuellen zum Massigen. Das gilt auch. wenn nicht sogar vor allem für die modischen Erscheinungen dieser Tage. Anerkannte Designer zeigen auf den großen Shows dieser Welt ihr neuesten Kreationen für die anstehende Saison, wenige Minuten nach der Show machen sich ganze Scharen von weniger famosen Designern an die Arbeit, das Ganze für bestimmte zweibuchstabige Unternehmen zu kopieren. Das ist eine gängige Technik. Urheberrechtsstreitigkeiten? Gerichtsprozesse? Fehlanzeige, denn beide Seiten profitieren von dieser Vorgehensweise. Das Individuelle ist der erste Schritt auf dem kurzen Weg der Massenkompatibilität. Jeder Trend hatte einen Setter. Allerdings heißt das Thema Masse versus Individuum. Doch wo besteht denn hier ein Versus, ein Kampf?

Gerade im Bezug auf Mode ist es für gewöhnlich der innere Kampf des Andersartigen nicht gesellschaftskonformen von dem gesprochen wird. Da es ja keine mittelalterlichen Kleiderordnungen mehr gibt, über die man sich hinwegsetzen müsste, dreht sich alles um Selbstvertrauen. Jeder kann so abgefahren wie er will durch die Stadt laufen – doch die Saat hat wie immer eine Ernte. Blicke, Kommentare – all das wird passieren, doch wo ist denn das Problem. Man kann doch nicht die Vermassung der Stadt an der Empörung der Bürger messen. Menschen, die sich individuell oder verrückt kleiden, tun das ja in ebendiesem Bewusstsein. Es ist ja auch Provokation – denn alles was nicht der Norm entspricht, ist gewissermaßen Provokation. Die Frage ist also falschherum gestellt. Relevant ist vor allem, ob es innerhalb eines Lebensraums genug Vorreiterwillige Mitglieder gibt, denen der spätere Ruhm bewusster als die jetzige Schmach ist.

Anfängliche Überlegungen über abwandernde Designer und wackelige Fashion Weeks waren demnach perspektivlos. Während des Schuhprojekts ist neben dem Lauf der Dinge vor allem eines klar geworden, Masse und Individuum sind so eng miteinander verknüpft und voneinander abhängig, dass das Versus ans Ende der Überschrift gehört. Denn das was wirklich ein Kampf ist, ist die ewige Debatte, wie individuell eine Stadt sein kann und muss. Denn wer diese Debatte unter dem Ansatz, nicht genug Raum für die eigene Einzigartigkeit zu haben, führt ist doch schon massig weit weg von Individualität.