Ankommen und Bleiben

 

Wie fühlt es sich wohl an, seine Heimat auf unbestimmte Zeit – vielleicht für immer – verlassen zu müssen und in ein völlig fremdes Land zu ziehen? Welche Erinnerungen bleiben aus der Vergangenheit und was für Hoffnungen werden mit der Zukunft verbunden? Und vor allem: wer bist du in diesem neuen Land? Zwei Fragen sind in diesem kurzen Portrait zweier junger Frauen mit Fluchthintergrund zentral, es sind Fragen nach der Identität: wie glaubst du von anderen gesehen zu werden und wie siehst du dich selbst? Antworten auf diese Fragen zu finden, stellt sich als schwierig heraus. Auf der einen Seite ist es nicht immer leicht, die anderen und deren Haltung einzuschätzen, auf der anderen Seite ist der Kontakt zum eigenen Ich nicht immer da. Traumatische Ereignisse können ihn unterbrechen, auch dies kann ein Selbstschutzmechanismus sein. Und schließlich kommt die fast unüberwindbare Hürde hinzu, seinen Platz in einer Gesellschaft zu finden, die immer von dir erwartet „fremd“ und „anders“ zu sein, denn du bist ja nicht von hier. Erschwert dies den Selbst- und Einfindungsprozess zusätzlich? 
Fest steht: Identität und die Suche danach sind wandelbare und nie endende Prozesse, wie auch das Ankommen und Bleiben in einem neuen Land.

Ankommen…

Die sechszehnjährige Mufida ist vor fünf Monaten mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. Sie kommt aus Aleppo, einer Stadt im Norden Syriens, wo seit Jahren der Bürgerkrieg tobt. Mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern, hat sie zwei Jahre in Istanbul in Flüchtlingscamps verbracht, bevor sie nach Deutschland gekommen sind. Nun wohnt die Familie in einem Heim in Berlin und hofft auf permanente Aufenthaltserlaubnis. 
An der John F. Kennedy School in Berlin lernt sie in einer Willkommensklasse gemeinsam mit andere Jugendlichen aus Afghanistan, Irak, Tunesien, Pakistan, Syrien und Rumänien Deutsch. Sie alle sollen langsam in den regulären Unterricht integriert werden, doch die kulturellen Unterschiede zu überbrücken fällt nicht immer leicht. 
Mufida findet vieles fremd in Deutschland: die Art wie Frauen und Männer sich kleiden, dass sie auf der Straße offen Zuneigung zeigen, das Essen. Trotzdem sagt sie, dass sie sich wohl fühlt. Am liebsten fährt sie mit ihrer Schwester Inline-Skates und ihr größter Traum ist es, einmal in die USA zu reisen und Englisch zu lernen. Mufida liest keine Zeitung und schaut keine deutschen Nachrichten. Wie Deutsche zu ihr oder Geflüchteten im Allgemeinen stehen, kann sie nicht einschätzen, doch weiß sie genau wie sie sich selbst sieht: nicht mehr „als Mufida in Syrien“, sondern sie sieht sich „gut in Deutschland“. Hoffentlich bleibt das so.

 



…und Bleiben.

Eine völlig andere Geschichte hat Mina, 23, mit ihrer Familie erlebt. Als sie erst ein Jahr alt war, befand sich ihre Familie schon eine Weile auf der Flucht vor dem Bosnienkrieg. Mina war nicht mehr in der Heimat ihrer Eltern geboren worden, sondern in Zagreb, Kroatien. Ihre Familie hatte Verwandtschaft in Berlin und so zogen sie hinterher und beantragten dort Asyl. 
Mina wächst mit der Sprache Deutsch und deutscher Kultur auf, aber eben nicht nur: ihre Kindheit und Jugend ist geprägt von der Berliner Multikulturalität, zuhause spricht sie mit ihren Eltern bosnisch. Ihre Schwester geht aufs Gymnasium, sie selbst hat ebenfalls eine Gymnasialempfehlung, dann der Schock: als sie zwölf Jahre alt ist, warten nach dem Schulunterricht Kriminalbeamte auf Mina und ihre Schwester um sie abzuholen.
Warum sie zu diesem Zeitpunkt abgeschoben werden sollten, hat Minas Familie nie erfahren. Durch öffentlichen und politischen Druck konnte die Abschiebung verhindert werden, dennoch haben Minas Eltern bis heute kein permanentes Bleiberecht und alle besitzen die bosnische Staatsangehörigkeit. Dabei ist Bosnien nicht Minas Heimat, es ist die Heimat ihrer Eltern und für sie selbst war der erste Besuch dort eine Reise in die Fremde. Die Frage danach wo sie herkommt, beantwortet Mina mit Berlin. Die häufig darauf folgende Frage, wo sie wirklich herkommt, nervt sie inzwischen. In Berlin ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen, hier wohnen all ihre Freunde und hier fühlt sie sich zugehörig. Nach vielen Umzügen wohnt sie nun in einer WG am Hermannplatz in Neukölln. Doch zur Zeit hält sie sich am liebsten in Spandau auf: dort hat ihr Freund eine kleine Laube, wo sie Gemüse angepflanzt haben und in der Hängematte ausspannen können – ihre Zuflucht, wenn der „Trouble am Hermannplatz“ mal zu anstrengend wird.

 


 

 


 


 

 

Projekt von
Lotte Barthelmes