Verlorensein in Berlin

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Berlin ist eine Stadt der tausend Möglichkeiten.

In Deutschlands Hauptstadt konzentrieren sich Politik, Bildungsstätten, Unternehmen, Restaurants und Clubs, wie auch Kultureinrichtungen von Museen, über Opernhäuser bis hin Kinos und nicht zuletzt internationale Events in Film- und Modebranche. Immer mehr Menschen, darunter viele Studenten, Jungunternehmer, Startup-Gründer, aber auch Künstler und Freigeister, zieht es in diese Stadt, der nachgesagt wird, dass ein jeder hier seine Chance bekommt, sich selbst und seine Ideen zu verwirklichen. Berlin ist nicht nur vom Lebensstandart günstig, es ist auch abwechselungsreich. Die Architektur zeugt von Deutschlands wechselhafter Geschichte und trägt mit dazu bei, dass jedes Viertel seinen eigenen Charakter entwickelt hat. Grünflächen und Seen wechseln sich mit dem hektischen Verkehr der Großstadt ab. Zudem bietet das enthemmte Nachtleben eine Abwechslung vom geschäftigen Alltag. Alternative Lebensformen mischen sich mit bürgerlichem Lebensstil, Szene und Trends mit Angepasstem und Traditionellem. In Berlin trifft Arm auf Reich, Jung auf Alt, Einheimische auf Zugezogene und eine Großzahl von Nationalitäten und Kulturen aufeinander.

Berlin besitzt eine entspannte Atmosphäre. Dennoch birgt die Größe, die Bevölkerungsmenge sowie das Überangebot an Aktivitäten und Möglichkeiten der persönlichen Verwirklichung und die daraus resultierende Freiheit, alles tun und lassen zu können, für die Bewohner auch immer die Gefahr, in der Masse unterzugehen und mit eben dieser persönlichen Freiheit überfordert zu sein. Die Großstadtproblematik von Anonymität und Einsamkeit, die Schwierigkeit des Anschlussfindens und das Gefühl von Verlorensein findet sich wie in anderen Metropolen auch in Berlin.

Georg Simmel verweist bereits 1903 in seiner Schrift Die Großstädte und das Geistesleben auf die Schwierigkeiten, die die Masse an Eindrücken und Bekanntschaften in einer Großstadt für ein Individuum mit sich bringen. Nach Simmel hat diese Menge der Sinneswahrnehmungen eine Überreizung der Nerven zur Folge, weswegen sich der Großstadtmensch als logische Konsequenz Schutzmechanismen wie Vernunft, Reserviertheit und Blasiertheit zulegt. Zwar beschreibt er den Großstädter als „frei“ und unabhängig, weist jedoch im selben Zuge darauf hin, dass nirgends die Gefahr des Gefühls von Einsamkeit und Verlassenheit so groß sei wie in eben dieser Großstadt. Simmel weist auch auf die Schwierigkeit hin, „in den Dimensionen des großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen“.

Dies bringe – so Simmel – den individuellen Geltungswunsch und damit die übersteigerte und konzentrierte Darstellung der eigenen Person mit sich.

Die Schwierigkeiten mit den großstädtischen Gegebenheiten umzugehen, erlebt wohl auch jeder Berliner trotz oder gerade wegen der mannigfaltigen Möglichkeiten der Stadt.
Viele Menschen überkommt eines Tages das Gefühl der Einsamkeit, der Orientierungslosigkeit, der Anonymität oder einfach nur der Wunsch sich zu beweisen und nicht unterzugehen.
Die drei Interviewten erlebten in Berlin allesamt auf unterschiedliche Weise dieses Gefühl des Verlorenseins:
Pauline, gebürtige Berlinerin, die an der Menge an Möglichkeiten in ihrer persönlichen Selbstfindung zu scheitern drohte – Tim, den es in die Großstadt zog, dem es jedoch nicht gelungen ist, in der anonymen Masse Anschluss zu finden – und schließlich Holm, ebenfalls Berliner, der aus Ostberlin stammend im Westen sein Glück suchte und dort nicht wie gewünscht Fuß fassen konnte. Alle Drei haben allerdings auch ihren eigenen Weg gefunden, diese Gefühle weitestgehend hinter sich zu lassen.
Berlin muss nicht für jedermann die richtige Wahl sein, ist aber dennoch für viele ein großes Geschenk. Es sollte nicht vergessen werden, dass auch in der Großstadt viele Menschen ähnliche Gemütslagen durchleben, gerade was den Wunsch nach Geborgenheit, Freundlichkeit und Liebe anbelangt. Zudem gibt es gerade in Berlin viele Möglichkeiten in Kiez und Interessensgemeinschaften Anschluss zu finden. Der Versuch, Offenheit gegenüber den Mitmenschen, aber auch gegenüber Chancen zu bewahren, wird in Berlin sicherlich belohnt.

 


Hinweis:
Die Interviews von Pauline und Tim basieren auf echten Interviews, wurden jedoch von feinfühligen Freunden nachgestellt, da die Personen selbst nicht vor der Kamera über ihre Probleme sprechen wollten.

Literatur:
Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Philosophische Kultur. Frankfurt am Main 2008. S. 905 – 916.


 

 

 

 

 

 

 

 

Projekt von Sophia-Marie Rilling